Jahrhundertwende

Die Jahrhundertwende wird für Oberammergau im Bezug einer Weiterentwicklung des Textes zum Ausgangspunkt einer mehr oder weniger bis heute dauernden Stagnation, obwohl dieser Text bereits damals nicht erhaltenswert zu sein scheint. Die Regierung von Oberbayern fordert für die Passion 1890 eine Reform des Textes, um „das alte kulturhistorische Spiel auf die Höhe der Zeit zu heben und vor einem möglichen Fiasko zu bewahren”[1] 1886 beruft die Regierung ein Kollegium, um die Passion von Dr. Johann N. Sepps, welcher 1850 eine wichtige Rezension[2] zu den Oberammergauer Passionsspielen schrieb, zu prüfen. Diese wird aber als ungeeignet befunden. Weiters wird vorgeschlagen die ‚Geier Wally‘ – Autorin Wilhelmine von Hillern oder den Geistlichen Rat Carl Ettmayer mit Bearbeitungen zu beauftragen, was ebenfalls von den Oberammergauern abgelehnt wird. Statt einer Neufassung beginnt bereits 1890 die Verstümmelung der Fassung von Pfarrer Daisenberger.
1900 gibt die Gemeinde von Oberammergau erstmals ein ‚Offizielles Textbuch‘ heraus, welches den vollständigen Text beinhaltet. Allerdings nicht den Originaltext, sondern den gerade aktuellen Spieltext. Das führt dazu, daß der immer wieder verteidigte ‚Daisenberger-Text‘ selbst den meisten Oberammergauern bis heute unbekannt ist.[3]
Obwohl es wie bereits erwähnt Stimmen gibt, die eine Weiterentwicklung des Textes fordern, werden die Stimmen, die ein ‚Bewahren‘ nahelegen, immer lauter. Ausgelöst durch die ersten Rezensionen, im Besonderen 1850 von Martin Deutinger und Eduard Devrient, welcher in den Passionsspielen ein „kostbare Reliquie des frühen Deutschlands” und einen „Hort des deutschen Volksgeistes”[4] sieht, wird Oberammergau zum Mythos. Die zentrale Idee dieses Mythos ist das „erfolgreichen Ringen um Bewahrung des Eigenen, einer entgegen allen Bedrohungen geretteten Identität.[5]
1840/50 umfaßt eine Auswahl von Kritiken über Oberammergau bereits 500 Seiten[6]. Bis 1900 ist die Zahl der Zeitungsberichte ins Unzählbare angewachsen. In einer Bibliographie[7] bezüglich Oberammergau werden um das Jahr 1900 alleine 150 Buchtitel aufgeführt. Neben verschiedenen Formen von Dokumentationen auch einige fiktionale Erzählungen. Darunter auch der Bestseller ‚Der Herrgottsschnitzer von Oberammergau‘ von Ludwig Ganghofer und von der Kirche auf den Index gesetzt ‚Am Kreuz. Ein Passionsroman aus Oberammergau‘ von der nach Oberammergau übersiedelten Hermine von Hillern. In Paris erscheint 1900 eine Erzählung ”Le Judas d’Oberammergau” von Otto de Schachings.
‚Den kunstsinnigen und den Sitten der Väter treuen Oberammergauern‘ ließ Ludwig II in die überdimensionale Kreuzigungsgruppe meißeln, welche er den Oberammergauern 1876 schenkt, als Dank für die ihm gegebene Sondervorstellung der Passionsspiele im Jahr 1871. Damit meißelt er das Leitmotiv, welches in vielen Köpfen bezüglich Oberammergau herumspukt, in Stein.
Die Jahrhundertwende ist eine Zeit des sozialen und politischen Umbruchs, alles scheint gefährdet. Oberammergau wird zum Symbol des Kampfes gegen den Untergang der alten Ordnung. Dementsprechend liest sich die Gästeliste der Passionsspiele von 1900 und 1910. Am Vorabend des ersten Weltkriegs versammelt sich in Oberammergau noch einmal fast alle Repräsentanten des europäischen Adels, aber auch der Ölmagnat John Davidson Rockefeller, der Architekt August Eiffel, Graf Zeppelin, Ernst von Possart, Intendant der Münchner Hofbühne, die Opernsängerin Adelina Patti, der Dirigent Felix Mottl und eine Unzahl an Bischöfen aus aller Welt.[8]
Aber nicht nur auf das ‚Who‘s who‘ übt Oberammergau seine Anziehungskraft aus. Besonders für die Amerikaner wurde Oberammergau zu einem ‚Neben-Mythos‘, als Ersatz zu ihrem zerbrechenden Selbstbild von der ”really new world in which one can throw off the trammels of the Old and rise to one’s full stature of a man”[9] Der Traum von moralische Überlegenheit Amerikas wird durch die um sich greifende Korruption im öffentlichen Leben mehr und mehr zerstört. Oberammergau erscheint dem gegenüber als das gesunde Bergdorf. Der gesuchte Ort ”of human perfection ... the possibility of life lived with maximum wiseness, happiness, and intensity.”[10] ”Oberammergau thus came to represent in a certain way the idea of a divinely granted second chance for the human race.”[11]
Im Zuge der weltweiten Vereinnahmung Oberammergaus werden unterschiedlichste Klischees produziert. Ein sehr typisches ist das ‚einfache bäuerliche Volk‘ von Oberammergau, welches aus der Glaubenskraft der Volksseele das Passionsspiel erschaffen hat. Dabei wird gerne übersehen, daß die Oberammergauer mehrheitlich bürgerlich leben, schon allein weil die Böden im Voralpengebiet zu wenig Ertrag abwerfen und Oberammergau schon seit Hunderten von Jahren traditionell ein Schnitzerdorf ist. Daß die Passionsspiele kein Spiel vom Volk sind, sondern von sogar namentlich bekannten Autoren , welche für ihre Zeit überaus gebildet gewesen sind, wird teilweise schlichtweg geleugnet.[12] Auch hierin spiegelt sich die Sehnsucht nach einem verloren gegangen Paradies.
„Die Tradition in allererster Linie verleiht dem Oberammergauer Spiel Wert und Charakter. In dem Augenblick, da hievon abgegangen wird, geräth das Ganze in äußerste Gefahr.”[13], meint ein Rezensent im Jahr 1900 und erfaßt damit wohl die Stimmung bezüglich Oberammergau, aber auch bezüglich der Situation in ganz Deutschland.
[1] GAO. Schreiben der Regierung von Oberbayern an die Gemeinde Oberammergau.
[2]Sepp, N. Johann: Bericht. In: Deutinger, Martin von: Das Passionsspiel in Oberammergau. Berichte und Urtheile über dasselbe, gesammelt von dem Herausgeber. In: Beyträge zur Geschichte, Topographie und Statistik des Erzbisthums München und Freising., Bd. 3. S.58-77
[3] Erst 1990 wurde alle Handschriften, welche sich bis dahin in Privatbesitz befanden im Archiv von Oberammergau gesammelt und damit der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
[4] Devrient, Eduard: Bericht. In: Deutinger, Martin von: Das Passionsspiel in Oberammergau. Berichte und Urtheile über dasselbe, gesammelt von dem Herausgeber. In: Beyträge zur Geschichte, Topographie und Statistik des Erzbisthums München und Freising., Bd. 3 1851. S.126
[5] Huber, Otto: Selbst aus China waren drei Herren eingetroffen...” Zur Attraktivität Oberammergaus um die Jahrhundertwende. In: Reinhold Zwick/Otto Huber: Von Oberammergau nach Hollywood. Wege der Darstellung Jesu im Film. S.13
[6] Deutinger, Martin von: Das Passionsspiel in Oberammergau. Berichte und Urtheile über dasselbe, gesammelt von dem Herausgeber. In: Beyträge zur Geschichte, Topographie und Statistik des Erzbisthums München und Freising., Bd.2 und 3.
[7] Rudwin, Maximilian: Historical and bibliographical survey of the german religious drama.
[8] Vgl.: Günzler, Otto/Alfred Zwink: Oberammergau. Berühmtes Dorf - Berühmte Gäste. S.109-141
[9] Böker, Uwe: Oberammergau. A Minor American Myth. S.36
[10] Reyher, Ferdinand: Christ in Oberammergau. Atlantic Monthly, 130. 1922. S.599-607
[11] Böker, Uwe: Oberammergau. A Minor American Myth. S.39
[12] vgl.: Huber, Otto: Selbst aus China waren drei Herren eingetroffen...” Zur Attraktivität Oberammergaus um die Jahrhundertwende. In: Reinhold Zwick/Otto Huber: Von Oberammergau nach Hollywood. Wege der Darstellung Jesu im Film. S.25
[13] Riß, Franz: Altes und Neues aus Oberammergau. In: Allgemeine Zeitung 103. Jahrgang 19 Juli 1900 Nr. 196